Mein Herzinfarkt – Erdrutsch und Chance

Mein Herzinfarkt – Erdrutsch und Chance

Sylvia, 58 Jahre, Gesundheitswissenschaftlerin

Schwierige Diagnostik, wenn man „Läuse und Flöhe hat“

Ich hatte mich gerade etwas von einer Polyneuropathieerkrankung erholt, deren Ursache nie geklärt werden konnte, als im März 2018 mein körperliches Leistungsvermögen erneut allmählich aber stetig abnahm. Ich kam nicht mal eine Treppenetage nach oben, ohne Pause zu machen und nach Luft zu schnappen, konnte keine 200 Meter gehen, ohne mich auszuruhen. Meine Hausärztin meinte, dass dafür höchstwahrscheinlich mein Asthma verantwortlich ist. Dann schwollen die Füße stark an und ich hatte Schmerzen in den Füßen, manchmal so stark, dass ich mit Gehhilfen zur Arbeit ging. Dafür sei die Polyneuropathie verantwortlich, wurde mir gesagt. Ich quälte mich weiter, bis ein befreundeter Professor für Anatomie mutmaßte, dass aus seiner Sicht das Herz für die Beschwerden verantwortlich sein könnte.

Ein befreundeter Arzt, dem ich in einem Telefonat meine Symptome schilderte und um Rat fragte, vermutete eine Herzinsuffizienz vom Stadium NYHA 3 (was sich später auch als richtig herausstellte). Ich bat meine Hausärztin um Überweisung zum Kardiologen. Der telefonisch erfragte Termin lag ca. drei Monate in der Zukunft – Hmm: Noch drei Monate mit den Beschwerden leben, die mich so stark beeinträchtigen? Gut gemeinter Tipp meiner Hausärztin (die mich immer sehr gut betreute und die auch viel mit mir redete): „Gehen Sie in die Notaufnahme, da geht es schneller mit der Diagnostik.“ Sie gab mir den Tipp, weil sie sich nun auch Sorgen machte. Das tat ich dennoch nicht, denn die Notaufnahme ist für Notfälle zuständig und ich wollte nicht zu denen gehören, die die Notaufnahmen sinnlos „verstopfen“.

Der Hausarzt unserer Freunde hat mir dann innerhalb von 3 Tagen einen Termin bei einer mit ihm befreundeten Kardiologin verschafft. Das war am 6. Juni 2018. Ein Belastungs-EKG konnte nicht durchgeführt werden, weil mein Blutdruck (trotz Medikamente) zu hoch war, der Herzschall schien auf nichts Ernstes hinzudeuten. Meine stark geschwollenen Füße und meine schlechte körperliche Konstitution wurden als normale Symptome der Wechseljahre gedeutet.

Drei Tage später, an einem Samstagabend bekam ich eine starke Panik, der ganze Körper zitterte, ich hatte starke Schweißausbrüche, der Blutdruck stieg auf 210/145 mmHG, und ich hatte eine starke körperliche Gewissheit: Jetzt ist etwas Ernsthaftes passiert. Mein Mann rief den Kassenärztlichen Notdienst unter 116117 an. Warteschleife. Minuten werden zur Ewigkeit. Er hat nun auch Angst und wählt die Notrufnummer 112. Dort wurde ihm gesagt zunächst die 116117 anzurufen. Das tat er erneut. Wieder Warteschleife, aber dann ging der Ruf durch. Der Kassenärztliche Notdienst schickte nach Schilderung der Situation sofort einen Rettungswagen. Das EKG zeigte keine beunruhigenden Veränderungen, aber später in der Notaufnahme stellte sich heraus, dass es doch ein Infarkt war. Ein sogenannter NSTEMI, der sich im EKG nicht manifestiert nur in den Werten der Herzenzyme und im Troponinwert.

Entscheidung und Vertrauen – beides ist lebensnotwendig

Ich liege bis vier Uhr am nächsten Morgen in der Notaufnahme, denn Herzenzyme und Troponinwert werden in Abständen mehrfach kontrolliert. Danach werde ich auf Station verlegt und eine junge, nette Ärztin erklärt mir, dass gegen 7:00 Uhr am Morgen eine Herzkatheteruntersuchung gemacht wird und mir, wenn es erforderlich ist, Stents eingesetzt werden. Ich weiß, dass es Entscheidungshilfen zur Revaskularisationstherapie gibt, bin aber nicht in der Lage, das morgens um vier Uhr nach dem „Ereignis“ anzusprechen. Den Aufklärungsbogen unterschreibe ich, ohne ihn vorher gelesen zu haben. Dazu war ich nicht in der Lage. Ich hätte jetzt alles unterschrieben. Ich war einfach zu fertig, zu müde, zu angstvoll und zu aufgedreht zugleich. Ich verlasse mich auf Geschick, Wissen, Können und Urteilsvermögen der Ärzte, die dann später die Revaskularisation durchführen.

Mir wurden bei einer Dreigefäßerkrankung in drei in einem zeitlichen Abstand erfolgten Herzkatheteruntersuchungen sechs Stents eingesetzt. Es konnte nicht in einer Sitzung erfolgen, da ich sonst zu viel von dem nierenschädigenden Kontrastmittel erhalten hätte.

Die nächsten zwei Tage nach dem ersten Eingriff verbrachte ich auf der „chest pain unit“, einer Art Intensivstation für Notfälle an Herz und Lunge. Das Gepiepse der Geräte an die ich angeschlossen war, war mir seltsamerweise eher eine Beruhigung, als dass es mich gestört hat. Ich wusste, ich werde „überwacht“. Das hat mir Sicherheit gegeben. Um Angst zu haben, war ich zunächst noch zu schwach. Ich hatte überlebt. Das war das Wichtigste. Bei Verlegung auf Station erhielt ich ein tragbares EKG-Gerät und fühlte mich erst einmal sehr unsicher. Würden es die Pflegekräfte in der Kanzel merken, wenn etwas „passiert“? Die Panikattacken begannen. Ich dachte, das gehört dazu und habe es nicht deutlich genug in der Visite angesprochen. Nur so kleine Andeutungen gemacht. Ich erhielt den Rat, nicht so in mich hineinzuhorchen. Das war sicher sehr gut gemeint, hatte aber die gleiche Wirkung wie der Rat „weine doch nicht“ bei jemandem, der vor Kummer schluchzen muss.

Vier Tage nach der ersten Herzkatheteruntersuchung wurde die zweite Untersuchung durchgeführt (die Dritte dann nach der Reha). Ein junger Arzt sollte mich aufklären. Etwas unsicher trat er vor meinem Bett in größerem Abstand von einem Bein aufs andere (er hatte wohl wenig Zeit) und begann seine Aufklärung mit den Worten: „Sie kennen den Ablauf der Untersuchung ja nun schon. Was ich aber nochmal sagen muss ist, dass Sie während der Untersuchung wieder einen Infarkt oder einen Schlaganfall bekommen können, oder dass wir sie wiederbeleben müssen. Ist halt so.“ Er lächelt und zuckt mit den Achseln. Ich versuche mich mit einem Scherz und frage ihn, ob er glaubt, dass ich mich nun nach seinen Ausführungen sicher fühle….

Die Ärzte und Pflegenden, die die Untersuchungen durchgeführt haben, waren großartig. Mir wurde alles erklärt, sie haben mich beruhigt und sich trotz starker Konzentration auf das nicht so einfache Geschehen mir immer wieder zugewandt. Mehrfach wurde ich ermutigt, mich sofort zu melden, wenn mich etwas beunruhigt oder mir irgendetwas komisch oder seltsam vorkommt, ich Schmerzen habe, Ängste etc. Das tat richtig gut. Ich war dankbar und habe das den OP-Teams der Herzkatheteruntersuchungen auch gesagt.

Als ich zum Beispiel bei der zweiten Herzkatheteruntersuchung sagte, dass ich „gerade ein sehr beklemmendes Gefühl in der Herzgegend habe“, sagte der Operateur ganz ruhig zu mir: „Das darf jetzt gerade so sein. Das bin ich mit dem Katheter. Ich bin jetzt drin im Gefäß. Das wird gleich besser.“ Und ich wurde sofort viel ruhiger.

Immer wieder bekam ich (und bekomme ich –wenn auch nicht mehr so häufig- bis heute) Schweißausbrüche und zittere am ganzen Körper, die Hände kribbeln. Dann kommt die Angst, es könne sich ein neuer Infarkt ankündigen. Und irgendwann kommt dann auch die Angst vor der Angst. Diesen Teufelskreis darf man nicht einfach so laufen lassen. Dagegen muss man etwas tun. Es ist durch Studien belegt, dass viele Patienten nach einem Eingriff am Herzen Angstattacken bekommen, was bis zu Entstehung einer Depression führen kann.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten den Angstattacken zu begegnen:

  • Ein Infarkt kann zu einem psychischen Trauma führen. Es gibt in Deutschland Psychotherapeuten mit einer speziellen Ausbildung in Traumatherapie:
    https://www.therapie.de/psychotherapie/-verfahren-/traumatherapie/
  • Viele Universitätskliniken haben eine psychokardiologische Ambulanz eingerichtet. Danach sollten Patienten schon während ihres Klinikaufenthaltes fragen. Ich habe mir dort einen Termin geholt und bin gespannt! Ich muss allerdings noch einen Monat darauf warten.
  • Es gibt auch spezielle psychokardiologisch ausgebildete Psychotherapeuten und Rehakliniken mit psychokardiologischem Behandlungsschwerpunkt. Adressenlisten unter: psychokardiologie.org
  • Entspannungstechniken und Yoga erlernen. Mir persönlich hilft Yoga sehr im Umgang mit meiner Angst, insbesondere die Atemübungen. Ich kann es nur empfehlen. Außerdem ist es eine sportliche Angelegenheit. Die meisten Krankenkassen übernehmen einen großen Anteil der Kosten für einen Yogakurs.
  • Mehr wissen über den Kreislauf von Angsstörungen, damit man ihn gezielt durchbrechen kann.
    (z.B. http://www.angst-auskunft.de/AAA_Angst_und_Panik.htm)

Akutbetreuung erledigt und wie weiter?

Patienten mit einem Infarkt haben Anspruch auf eine Anschlussheilbehandlung, kurz AHB. Das ist eine Rehabilitation, die sich unmittelbar an den Klinikaufenthalt anschließt und noch während des Klinikaufenthaltes beantragt werden muss. Das tun die SozialarbeiterInnen der Klinik. Kommen sie nicht von selbst ans Bett, sollte man nach ihnen fragen.

Inhalte der AHB sind Sport, Entspannung und Patientenschulung zum Erkrankungsbild, zur Lebensstilveränderung und zur Bewältigung. In die Patientenschulungen, die ich erlebt habe, haben die didaktischen Grundlagen der Erwachsenenbildung noch keinen Einzug gehalten. Da ist noch Luft nach oben!

Ich bekam von der Kliniksozialarbeiterin eine Auswahl von fünf kardiologischen Rehakliniken im Umkreis, aus denen ich eine wählen konnte. Ich wählte die, auf deren Homepage vermerkt war, dass sie zu den besten 10 kardiologischen Rehakliniken Deutschlands gehöre. Das hat jedoch nichts zu sagen, denn es ist mir nicht gelungen, die Kriterien herauszubekommen, an denen das festgemacht wird. Die Beurteilung des Rehaerfolgs erfolgte durch eine subjektive Einschätzung der betreuenden Ärztin und mich (die übrigens voneinander abwichen). Meine andere Grunderkrankung (Polyneuropathie) spielte keine Rolle. Man könnte den Rehaerfolg doch gut objektivieren: ein Belastungs-EKG am Anfang der Reha mit einem Belastungs-EKG am Ende der Reha vergleichen.

Wer eine Rehaklinik sucht, die nach transparenten Qualitätskriterien bewertet wurde, kann hier nachsehen :
https://www.qualitaetskliniken.de/reha/

Ein unbedingtes MUSS ist die Änderung des Lebensstils. Das klingt immer wie eine Floskel in allen Aufklärungsmaterialien, aber für Betroffene ist es genau das, was sie selbst tun können. Und das ist enorm wichtig. Gesunde Ernährung, viel Bewegung (am besten in einer Herzsportgruppe und auch darüber hinaus). Auch die Auseinandersetzung mit und Bearbeitung von „queren“ Lebens- und Leistungseinstellungen sind sehr wichtig.

Ein echtes Problem für die Betroffenen im arbeitsfähigen Alter ist die Frage: Wann kann ich wieder arbeiten? Ein zu früher Eistieg ist ebenso schädlich wie ein zu später Einstieg. Außerdem muss man sich überlegen, ob man sein Leben nicht generell „umkrempelt“. Steige ich wirklich wieder in den gleichen Job ein oder muss ich über Alternativen nachdenken? Das ist manchmal nicht einfach, denn Patienten brauchen ja auch eine soziale Absicherung. Leichtfertige Kündigungen sind ebenso gefährlich für die Gesundheit wie ein Zurück in alte Bahnen, die ja auch ihren Beitrag zum Infarkt geleistet haben. Hier gibt es keine allgemeingültigen Regelungen. Das muss jeder für sich und am besten mit der Hausärztin/dem Hausarzt klären.

Mich hat der Infarkt aus meiner Mitte geworfen. Er war ein Frontalangriff auf das Zutrauen in mich selbst. Ich konnte in der Vergangenhiet alle Warnzeichen des Körpers ignorieren und weitermachen, wie gehabt. Das geht nun nicht mehr. Deshalb ist mein Infarkt auch ein Geschenk, eine große Chance. Wichtig ist dabei, die eigenenen körperlichen Grenzen kennenzulernen. Etwas, das ich (wie auch viele andere Infarktpatienten) erst lernen muss… Da gibt es noch ein gerüttelt Maß an Unsicherheit. Auch habe ich immer noch das unspezifische „Autoimmungeschehen“, auch wenn die Taubheit in den Füßen nach der Revaskularisation (des wieder-durchgängig-machen) des Herzens nachlässt, ermüde ich immer noch schnell und bekomme schon geringer körperlicher Betätigung Schweißausbrüche. Und dann kommt die Angst… Beruhigend de Worte meines Hausarztes: „Bei Ihnen müssen wir jetzt besonders aufpassen.“

Rat für Ärzte und Pflegende

  • Sich namentlich vorstellen oder ein gut lesbares Namensschild tragen (viele Patienten kennen die Namen ihrer behandelnden Ärzte nicht)
  • Sich kurz ans Patientenbett setzen während der Aufklärung (in jedem Krankenzimmer gibt es Stühle!). Augenhöhe vermindert Abstand und damit auch Angst.
  • Darauf achten dass der Patient in Würde zuhören kann (und zum Beispiel nicht gerade auf dem Schieber sitzt)
  • Bei der Aufklärung nicht nur Komplikationen sondern auch den Nutzen der Maßnahmen herausstellen.
  • Entscheidungshilfen aus der NVL KHK in den Aufklärungsbogen integrieren oder zumindest mit verwenden
  • Dem Patienten auch erklären, wie er sich während der Maßnahme fühlt (ob er/sie Schmerzen haben wird, bzw. alles, was vom sonst gewohnten Empfinden abweicht etc.)
  • Die Patienten zum Fragen ermutigen.
  • Das Problem der Ängste und Panikattacken von Beginn an im Auge behalten. Adressen von Hilfsangeboten schon in der Klinik aushändigen.

Rat für Patienten

  • Den Ärzte und Pflegenden signalisieren: ich habe Vertrauen in dich. Wenn ich als Patient ein gutes Miteinander und eine gute Kommunikation erwarte, muss ich selbst auch etwas dafür tun.
  • Den Mund aufmachen und fragen. Zum Beispiel während einer Untersuchung: „Ist das normal, dass ich jetzt gerade ein sehr beklemmendes Gefühl in der Herzgegend habe?“
  • Keine Angst, auch Sorgen und Ängste anzusprechen.
  • Sich informieren über die Erkrankung, den Umgang damit und über Adressen von Hilfsangeboten.

Danksagung

Erfahrungsberichte von patientengeschichten.online fassen Interviews mit Betroffenen zusammen. Alle Gesprächspartnerinnen und -partner haben der Veröffentlichung zugestimmt. Ihnen gilt unser herzlicher Dank.
Die Berichte geben einen Einblick in den persönlichen Umgang und das Leben mit einer Erkrankung. Die Aussagen stellen keine Empfehlung der Redakion von patientengeschichten.online dar.
Hinweis: Um die Anonymität der Interviewten zu wahren, ändern wir ihre Vornamen, sofern dies gewünscht wurde.

Weiterführende Informationen

Redaktion:  Günter Ollenschläger

Stand: 21. 10. 2019